Wies 4/2015



Die Texte des Mess-Ordinariums – Musikwoche Wies 4, 10.-18. August 2015

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Vorbemerkung: Das Musikprogramm der Wieswoche 4 enthielt mit den Messen von Antonin Dvorak, op. 86 und Joseph Rheinberger op. 117 zwei Vertonungen des Messordinariums. Seine Texte wurden in den Abendandachten der Woche mit dem jeweiligen biblischen Hintergrund in Kurzpredigten thematisiert und ihre Bedeutung für die Chorsänger und Instrumentalisten erläutert.

KYRIE

Lesungstext: Der Christushymnus des Philipperbriefes: Phil 2,5-11
1. Das Christusbekenntnis des Philipperhymnus „Jesus Christos kyrios“ enthält die biblische Textgrundlage für die Anrede an Jesus Christus im Kyrie-Gesang. Es ist ein Bekenntnis zu seiner Gottheit, denn die frühen Christen haben den Titel „Kyrios“, der in der griechischen Übersetzung des AT den Gottesnamen Jahwe wiedergibt, auf Jesus übertragen. Noch deutlicher formuliert Paulus im Römerbrief: „Wenn du mit deinem Mund bekennst „Jesus kyrios“ und in deinem Herzen glaubst, Gott hat ihn von den Toten erweckt, so wirst du gerettet werden“ (Röm 10,9): Das Bekenntnis, Jesus ist der „Kyrios“, ist Voraussetzung und wird zur Gewissheit der persönlichen Rechtfertigung.
2. Der Ruf und die Anrede „Kyrie, eleison“ ist jedoch älter als das Christentum. Das war der Huldigungsruf an den römischen Kaiser, seit er sich als Gott verehren ließ. Wenn die Christen provokant Jesus den „Kyrios“ nannten, distanzierten sie sich entschieden vom römischen Kaiserkult.
Entstanden ist dieser Ruf in der oströmischen Kirche; darum die griechische Sprache, die später auch im Westen für den Begrüßungsruf Jesu Christi beibehalten wurde, als einziges griechisches Element im lateinischen Gottesdienst. Die beibehaltene griechische Sprache belegt das hohes Alter des Rufs; Im „Gloria“ und „Agnus Dei“ ist der Ruf bereits mit „miserere“ lateinisch übersetzt.
Bis heute ist „Kyrie eleison“ in der Liturgie der griechischen Ostkirchen ein häufig wiederholter Antwortruf des Chores auf die „Ektenien“ des Diakons, die verschiedenen Gebetsanrufungen der Fürbitten. In der altslawischen Liturgie heißt er Gospodin pomiliou oder pomoizon und prägt ebenfalls den ganzen Gottesdienst.
Im 4./5. Jahrhundert wurde das „Kyrie“ in den römischen Gottesdienst übernommen, aber an den Anfang der Messe gestellt. Dort nahmen die Fürbitten bald derart überhand, dass Papst Gregor I. zu Beginn des 6. Jahrhunderts eingriff, die Fürbitten ganz untersagte und den Ruf auf das neunmalige „Kyrie-Christe-Kyrie“ beschränkte, gewiss mit trinitarischer Ausrichtung, als Huldigung an den dreifaltigen Gott. Schnell wurde das „Kyrie“ zum Klerikergesang. Doch das gläubige Volk ließ sich den Gebetsruf des „Kyrie“ nicht nehmen: Die spätmittelalterlichen „Leisen“ künden von hoher Popularität des „Kyrie“; sie stehen z.B. noch in unseren ältesten Kirchenliedern „Christ ist erstanden“ und „Gott sei gelobet und gebenedeiet“. In der tridentinischen Messe hatte das Kyrie nach dem „Confiteor“ eher Bußcharakter. Seit dem 2. Vaticanum verstehen wir es eher wieder als Huldigungsruf an Jesus Christus, den Gastgeber und Herrn der Mahlfeier.
3. Die „Kyrie“-Vertonungen verlaufen teils bittend und flehend wie etwa in Bachs h-moll-Messe, teils froh huldigend und begrüßend wie bei Mozart. Joseph Haydn verbindet beide Elemente des „Kyrie“, wenn er gerne mit einer langsamen Einleitung beginnt und in einen bewegten Sonatensatz übergeht.
Bei Dvoraks Messe steigert sich der anfängliche „Kyrie“-Ruf in wiegendem 6/4-Takt zu einem dringenden Bittruf. Das „Christe“ führt ihn solistisch fort und deklamiert ihn inständig und flehentlich. Das 3. „Kyrie“ wendet sich ganz unkonventionell am Ende nochmal an Christus.
Bei Rheinbergers „Kyrie“-Vertonung (Messe op. 117) wird in der strengen Dreiteilung des Aufbaus der trinitarische Bezug deutlich.
4. Was geschieht, wenn wir „Kyrie“ singen?
- Die Anrede „Kyrie“ ist in jüdischer Tradition ein Bekenntnis zu einem Größeren über uns, ist Anerkennung unserer Geschöpflichkeit und Begrenztheit; sie hilft uns, uns in unsere Rolle als Geschöpf und in unsere Zuordnung zu Gott einzufühlen. Mit „Kyrie“ stellen wir auch unsere Woche unter Gottes Geleit.
- „Kyrie“ ist im Sinne von Paulus Bekenntnis zu Jesu außerordentlichem, göttlichem Rang. Ihn rufen wir zu unserem Heil an: „Wenn du bekennst, Jesus ist kyrios, wirst du gerettet werden“.
- „eleison“ ist Bitte und damit Eingeständnis unserer Lücken, Defizite und Schwächen. Mit „eleison“ tragen wir unsere Fragmente und Bruchstellen zu Gott und breiten sie vor ihm aus.
- Das gemeinsame Rufen und Singen des „Kyrie eleison“ schweißt uns aber auch als Gemeinschaft zusammen, macht uns solidarisch untereinander und wird zum Auftrag zu gegenseitiger Hilfe und Solidarität. Denn Gott hat keine anderen Arme als die unseren.

GLORIA

Lesungstext: Die frühchristliche Haustafel aus dem Kolosserbrief: Kol 3,12-17
1. Die Aufforderung des Briefverfassers, „singt Gott in euren Herzen Psalmen und Lieder, wie sie der Geist eingibt“ (Kol 3,16), ist Ursprung und Ausgang unseres Gloriatextes. Denn sie animierte die frühen Christen zur Produktion eigenständiger Lob- und Preisgesänge, die sie den biblischen Psalmen an die Seite stellten und mit den Psalmen im Gottesdienst praktizierten. Man nennt sie daher „Psalmi idiotici“, dem Christentum spezifische Hymnen und Lobgesänge. Sie waren beliebt, weit verbreitet und nahmen so überhand, dass das Konzil von Laodizäa (380 n. Chr.) diese eigenständige Praxis untersagte und damit beendete. Nur das „Te Deum“ und unser „Gloria“ blieben übrig und wurden weiter geduldet, weil diese beiden Cantica schon zu populär geworden waren; wohl auch, weil sie beide biblische Texte enthielten.
Im „Gloria“ ist der Gesang der Engel auf den Fluren von Betlehem der Ausgangspunkt (Lk 2,14) des Hymnus. Er wird im 6. Jahrhundert zum festen Bestandteil des Papstgottesdienstes in Rom. In unseren Breiten bürgert er sich in der Karolinger-Zeit als eröffnender Bestandteil der Messfeiern an Sonn- und Festtagen ein, zum „Kyrie“ hinzu ein.
Wie das „Kyrie“ hat das „Gloria“ begrüßend-huldigenden wie bittenden Charakter: „Die beste Interpretation des Kyrie ist das nachfolgende lobende und bittende Gloria“ (Theodor Schnitzler).
2. Den Aufbau des „Gloria“ lässt der zweisprachige Abdruck in GL 583 gut erkennen:
Vier Teile gliedern den Gesang: (1) Der Lobgesang der Engel in Betlehem, (2) Preisungen Gottes in responsorialer Form: Kantor und Gemeinde rufen sich ihre gegenseitige Bereitschaft zum Gotteslob zu und begründen dies, (3) ein christologischer Teil, der für Jesus den Titel „Agnus Dei“ - „Lamm Gottes“ einführt und vor allem Bitten enthält: „suscipe“ und „miserere“ („nimm an unser Gebet und erbarme dich unser“), (4) eine trinitarische Abschlussformel, die auch den Hl. Geist miteinbezieht.
3. Wieder fragen wir: Was geschieht, wenn wir „Gloria“ singen? Ich konzentriere meine Antwort angesichts der Textfülle auf das Leitwort des Gesangs: „Gloria“; dreimal kommt es vor, dazu das abgeleitete Verb „glorificare“. „Gloria“ ist die Übersetzung des griechischen „doxa“, das wir vom Fachwort „Doxologie“ kennen – und dies ist wiederum die Übersetzung des hebräischen kabod. Kabod ist eine Eigenschaft des Königsgottes Israels, der wie der irdische König als Majestät verehrt wird. Zu dieser Bedeutung von kabod treten noch die Komponenten „Herrlichkeit“, „Ehre“, „Bedeutung“, „Gewicht“ dazu. Der „Gloria“-Gesang ist von diesem Leitwort her ein Aufruf, in allem, was uns in unserer Wirklichkeit begegnet, was überrascht und erfreut, was uns staunen und bewundern macht, Manifestationen der kabod-doxa-gloria Gottes zu sehen und ihm deswegen Ehre zukommen zu lassen („glorificare“). In vorbildlicher Weise vermag der jüdische Gläubige bei allen Zumutungen und Begegnungen des Lebens einen solchen Lobpreis auf Gott aussprechen: „Gepriesen bist du, Herr, unser Gott, weil du…“. Denn es gilt, was wir dann im Sanctus“ ausdrücklich singen und bedenken werden: „Die Fülle der Erde ist seine Herrlichkeit“ („pleni sunt coeli et terra gloria tua“).
Aus dieser „gloria“ kommt die „pax“: Es ist nicht der Friede, den wir Menschen immer wieder vergeblich zu erringen versuchen, es ist der göttliche Friede, schalom, Gottes Ganzheit und Fülle, die „unserer Schwachheit aufhilft“.
4. Von den vielen „Gloria“-Vertonungen möchte ich nur die Beethovens in der „Missa Solemnis“ erwähnen, weil Beethoven am Ende nicht mit „Amen“ schließt, sondern mit einem ekstatischen Gloriaruf, der auf diese Weise Anfang und Ende des Hymnus verbindet.
Die „Gloria“-Vertonung bei Dvorak beginnt fanfarenartig mit einem D-Dur-Dreiklang, der sich zu einem ekstatischen Gloriaruf steigert. Im Kontrast dazu wird „pax“ im pianissimo besungen. Die Korrespondenz der Stimmgruppen bei den Zurufen „laudamus te“, „benedicimus te“ etc. steigert sich bis zum „glorificamus“. Die Bitten des christologischen Teils ergehen in einem Dialog zwischen Soli und Tutti. Ab „Quoniam“ kehrt der Jubel wieder, der in das traditionelle Schlussfugato des „Cum Sancto Spiritu“ mündet.
An Rheinbergers kleinerer Form gefällt wieder die Textnähe und ihre Gliederung exakt nach dem Textaufbau. Sehr gelungen gestaltet Rheinberger den responsorialen Teil, wo es zum Dialog zwischen dem Bass und den drei anderen Stimmen kommt. Der christologische Teil ist demütig bittend zurückgenommen. Die farbige Wendung nach Moll bei „Cum Sancto Spiritu“ überrascht. Zustimmend und bestimmt beschließt das „Amen“ die „Gloria“-Komposition.

CREDO

Das „Credo“ spare ich bei meinen Ausführungen zum Mess-Ordinarium aus. Wegen seiner Textfülle sprengt es den hier gewählten Rahmen. Außerdem ist das „Credo“ relativ spät in das Mess-Ordinarium aufgenommen worden: Erst Kaiser Heinrich II. (1002-1024) wünschte es als Bestandteil der Messe an Sonn- und Feiertagen. Seinen angestammten Platz hat das „Credo“ bei der Spendung des Tauf-Sakraments; dort legt der Täufling oder für ihn die Gemeinde das Glaubensbekenntnis ab.
Doch bei den mehrstimmigen Vertonungen des Mess-Ordinariums ist das „Credo“ das Herzstück und der Mittelpunkt der Kompositionen. Seine vier Teile, Glaube an Gott, an Jesus Christus, den Hl. Geist und die Kirche, die Wiederkunft Christi und das ewige Leben bieten den Komponisten genügend Räume zur musikalischen Deutung in manchmal symphonischen Dimensionen.
Besonders originell ist die „Credo“-Komposition von Dvorak gestaltet: Wie eine Taufkatechese trägt die Altsolistin die jeweiligen Glaubensartikel vor, der Chor als Gemeinde nimmt sie freudig auf und gestaltet sie nach oder bekräftigt sie mit „Credo“. Die „Credo“-Komposition Dvoraks ist Ausdruck echter Glaubensfreude.

SANCTUS und BENEDICTUS

Lesungstext: Die Berufungsvision des Propheten Jesaja: Jes 6,1-8
1a. Die Lesung hat uns unterrichtet, dass unser Sanctus-Gesang, das Dreimal-Heilig, aus dem hebräisch-jüdischen Erbe des Christentums stammt. Genauer handelt es sich um eine Übernahme eines Gesangselements der vorchristlichen Jerusalemer Tempelliturgie in den christlichen Gottesdienst.
Die Berufung Jesajas erfolgte nach dem Ich-Bericht des Propheten im Rahmen eines audio-visuellen Erlebens im Jerusalemer Tempel: Er sieht Jahwe als König im Himmel thronen, er hört, wie die ihn umgebenden Serafim sich das Dreimal-Heilig zurufen, förmlich zuschreien, wie Luther es in seiner Sanctus-Verdeutschung wiedergegeben hat: „Genander riefen sie mit großem Gschrei“.
Bei dem Schrei der Serafim wird das Adjektiv „heilig“ dreimal wiederholt, die höchste Form der Steigerung in der hebräischen Sprache, die keinen Superlativ oder Elativ kennt. Die Serafim („die himmlischen Heere“ oder die „Mächte und Gewalten“) bekennen also mit ihrem Ruf die höchste Heiligkeit dieses Gottes, vor dessen göttlicher Aura sie sich mit ihren Flügeln schützen müssen, obwohl sie den thronenden Gott damit schützen sollten. Wir nehmen an, dass Jesaja in seinem Tempelerlebnis den himmlischen und den irdischen Gesang als Einheit hörte, dass also das Dreimal-Heilig schon Bestandteil der Jerusalemer Tempelliturgie war.
1b. Von dort wurde der Ruf, das Bekenntnis des heiligen Gottes, in den jüdisch-synagogalen und in den christlichen Gottesdienst übernommen: In der Synagoge als Heiligung der Gemeinde am Sabbatmorgen; in der christlichen Liturgie erscheint es ab dem 4. Jahrhundert im Hochgebet der Messe und zwar als Akklamation der Gemeinde im fortlaufenden Hochgebet. Heute noch mündet die Präfation, der Eröffnungsgesang des Hochgebetes, in den Dreimal-Heilig-Gesang ein.
Allmählich verselbständigte er sich zum eigenständigen Gesangsstück. So erscheint es in der Messordnung Martin Luthers vom Chor gesungen nach Einsetzungsbericht und Elevation von Brot und Wein; später wird das „Dreimal-Heilig“ in der reformierten Abendmahlfeier der „Deutschen Messe“ als Gemeindelied während der Austeilung des Sakraments gesungen.
1c. Das israelitisch-jüdische Erbe des Sanctustextes ist vollständig: Denn auch der an das dreifache „Sanctus“ anschließende Satz „pleni sunt coeli et terra gloria tua“ („voll sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit“) gehört noch zum Berufungsbericht Jesajas und zum Ruf der Serafim. Sie stellen fest, dass die Heiligkeit des thronenden Gottes die ganze Erde erfüllt und von keinem Heiligtum gefasst werden kann; allein sein Gewandsaum füllt das Tempelgebäude aus. Für seine volle Heiligkeit reicht kaum die ganze Erde aus: „Die Fülle der Erde ist seine Herrlichkeit“ (s. „Gloria“).
1d. Die christliche Liturgie hat zwei weitere Elemente aus dem Alten Testament an das Dreimal-Heilig angefügt: „Hosanna“ und „Benedictus“. Sie stammen aus dem 118. Psalm: Das „Hosanna“ ist dort (118,25) eigentlich ein dringlicher Hilferuf der Jerusalempilger: hoschi‘a-na – „hilf doch“; wegen seines Vokalreichtums wurde daraus ein Jubelruf, wie es der Bericht vom Einzug Jesu in Jerusalem erkennen lässt (Mt 21,9).
Und das „Benedictus“ ist ursprünglich ein Begrüßungs- und Willkommensruf für die Jerusalempilger: „Gesegnet ist jeder, der im Namen des Herrn kommt“ (Ps 118,26). In der christlichen Liturgie wird dies auf Jesus Christus gedeutet, der in den Gestalten von Brot und Wein in die Mitte seiner Gemeinde kommt.
Die Texte unseres „Sanctus“- und „Benedictus“ - Gesangs sind also vollständig Erbe des Alten Testaments. Mit „Sabaot“ und „Hosanna“ singen wir in unserer „lateinischen“ Messe althebräische Worte und Rufe.
2. Das führt uns unmittelbar zur Bedeutung und Anwendung dieses Singens auf uns:
- Es gilt dabei, uns dieses großen Erbes bewusst zu werden und damit der hebräisch-jüdischen Wurzeln oder des Mutterbodens des Christentums. Wie sehr lastet immer noch die schwere Hypothek der tragischen Beziehungsgeschichte der beiden Religionen auf dem Christentum.
- Das Singen des Dreimal-Heilig, bei dem himmlische und irdische Liturgie zusammenklingen, enthält für uns Sänger und Musiker stets neu den anspruchsvollen Auftrag, die Qualität unserer irdischen Liturgie mit der vorgestellten himmlischen möglichst in Annäherung zu bringen, damit die Menschen, die uns hören, wenigstens für Augenblicke spüren, dass der Himmel die Erde berührt.
3. Die höchst gegensätzlichen „Sanctus“-Vertonungen der klassischen und romantischen Messkompositionen zu vergleichen, wäre ein abendfüllendes Thema. Ich nenne nur die Beispiele, die mir im Gedächtnis sind:
Den Deutungen des „Sanctus“ mit prunkender Klangfülle wie in Bachs h-moll-Messe steht das ehrfurchtsvolle Stammeln des „Sanctus“ in Beethovens „Missa Solemnis“ gegenüber.
Ein „Sanctus“-Gesang, der mir besonders eindrücklich in Erinnerung ist, ist das „Sanctus“ der Schubertschen As-Dur-Messe mit Naturstimmung, fernen Hörnerklängen, so als suche Schubert die Herrlichkeit des heiligen Gottes in der Natur, ganz textgemäß: „In der Fülle der Erde“.
Bei Dvoraks Ausdeutung des „Sanctus“ scheint die damalige liturgisch Praxis in der katholischen Kirche Pate gestanden zu haben, wo zum „Sanctus“ dreimal die Altarglocken geläutet wurden. Die „Sanctus“-Rufe zu Beginn gleichen Glockenschlägen. Die dann folgende unregelmäßige fünftaktige Phrase bei „Pleni sunt coeli“ könnte darauf hinweisen, dass Gottes Herrlichkeit und Heiligkeit alle irdischen Rahmen und Räume sprengt.
In Rheinbergers wieder textgetreuer „Sanctus“-Deutung steht ein staunend-ehrfurchtsvolles, verhaltenes „Sanctus“ voran. Bei „Pleni sunt coeli“ wird die Fülle des Himmels und der Erde angedeutet mittels aufsteigender Linien mit dem Höhepunkt auf „gloria tua“. Das „Hosanna“ beginnt durchaus als Bittruf, steigert sich dann in abwärts und aufwärts schreitenden Jubelgirlanden. Der verhaltene piano-Schluss auf „excelsis“ ist sicher der Position des „Sanctus“ in der katholischen Messliturgie geschuldet; denn es erklingt unmittelbar vor dem Höhepunkt der Messe, der „Wandlung“ und Elevation der heiligen Gestalten.

AGNUS DEI

Lesungstext: Der zweimalige, auf Jesus hinweisende Ruf Johannes des Täufers: Joh 1,29-36
1.Wieder sollte zuerst die biblische Herkunft des letzten Gesangs des Messordinariums nachgewiesen sein: Das „Agnus Dei“ ist der Ruf Johannes des Täufers, der in Jesus den Erlöser der Welt erkennt und zweimal mit dem Ruf „Seht das Lamm Gottes“ auf ihn weist, so dass sofort Menschen Jesus nachfolgen. Johannes wählt für Jesus ein Tierbild und ordnet es Gott zu: „Lamm Gottes“; damit stellt er eine Beziehung zum alttestamentlichen Gottesknecht her, der wie ein Lamm zur Schlachtbank ging (Jes 53,7) und sich für andere hinschlachten ließ. So wurde „Lamm Gottes“ im frühen Christentum ein Deckname oder eine Geheimbezeichnung für Jesus Christus, ähnlich dem Fisch-Symbol. Ganz deutlich wird dies beim „apokalyptischen Lamm“ der Offenbarung. In dieser Schrift verfolgter Christen um das Jahr 90 n. Chr. wird von Jesus bevorzugt vom „Lamm“ gesprochen; es kann allein die sieben Siegel der geheimnisvollen Schriftrolle lösen (Offb 5,1-14); und nach Abschluss des Endzeitgeschehens wohnen Gott und das „Lamm“ in der Gottesstadt auf Erden (Offb 22,3).
2. Wie kam der Ruf des Täufers „Seht das Lamm Gottes“ in die Messfeier? Mit „Lamm“ (griech. „amnos“, lat. „agnus“) bezeichnete man im Rom des syrischen Papstes Sergius I. (ca. 700) das eucharistische Brot, das gebrochen wird, um zur Speise dienen zu können. Und so lag es nahe, den Ruf des Täufers zum Begleitgesang der Brotbrechung in der Eucharistie zu machen. Dabei wird Christus angerufen, dessen Leib für uns zerbrochen wurde. Dazu nahm man das „miserere“ des „Kyrie“ und „Gloria“ wieder auf und formte einen Bittgesang zur Brotbrechung, gleichzeitig ein Vorbereitungsgebet zum Kommuniongang. Und weil die Brotbrechung schon mit dem Friedenskuss verbunden war, lautete die dritte „Agnus-Dei“-Bitte schnell: „dona nobis pacem“ und wurde zur Friedensbitte.
3. Wie das Kyrie“ und der Hauptteil des „Gloria“ richtet sich das „Agnus Dei“ an Jesus Christus und stellt als neues Element im Mess-Ordinarium sein Erlösungswerk für uns Menschen ins Zentrum. Der „Agnus Dei“-Gesang betont, dass Jesus unser Menschsein („peccata mundi“) auf sich genommen und auch seine Tiefen und Schwächen durchlitten hat. So können wir Schuld, Schwächen und die Fragmente unseres Lebens vor ihm ausbreiten und Wege der Rettung und Befreiung erhoffen. Denn sein Weg ist nicht ein Weg, der in den Abgründen der Existenz verblieb, sondern wieder herausführte. So haben wir in ihm die Gewähr, dass auch wir Wege aus unseren Schwächen und unserem Versagen finden und Neuanfänge nach allem Scheitern gewinnen können.
4. In den klassischen und romantischen „Agnus-Dei“-Vertonungen klingt immer beides an: Die Schwere und Last unseres Lebens in den „miserere“-Rufen und die gläubige Gewissheit der Befreiung davon im „dona nobis pacem“.
Für den ersten Bereich verweise ich auf das flehentliche Alt-Solo des ersten Agnus Dei“ in der der h-moll-Messe Bachs und – für uns naheliegend – auf die schmerzlichen verminderten „miserere“-Rufe in der Dvorak-Messe.
Die gläubige Gewissheit der Befreiung von aller Last ist in den „dona-nobis-pacem“-Gesang gebettet. Er ergeht bisweilen ganz beschwingt und sicher wie bei Mozart, so als hätten wir den Frieden schon, um den wir bitten. Die „dona-nobis-pacem“-Bitte kann aber auch wie bei J. Haydn kriegerisch-bedrohliche Züge annehmen, wenn Pauken und Kriegsfanfaren ertönen und damit die napoleonischen Kriege dramatisch aktualisiert werden, wie in der „Paukenmesse“ und in der „Nelsonmesse“; die Friedensbitte wird dann zur drängenden Bitte um das Ende der Kriegsschrecken. Oder die „dona-nobis-pacem"-Bitte wird zum Ausdruck unserer Sehnsucht nach dem Kommen des himmlischen Friedens, der in Dvoraks Komposition in Terzenseligkeit auf die Erde herabzugleiten scheint.
In kompositorisch dichter und kunstvoller Form hat J. Rheinberger die beiden Elemente des „Agnus Dei“ gestaltet: Die ersten beiden „miserere“-Bitten bestreitet er mit dem Dreiklangsmotiv, das seine ganze Messe-Komposition prägt. In der Friedensbitte führt er ein kleines melismatisches Motiv ein, das sich mit dem Grundmotiv kunstvoll verbindet und die Strenge und Schwere des „Agnus-Dei“-Gesangs tröstlich wendet.

Theo Seidl

Literatur:
Jungmann, J.A., Missarum Sollemnia I und II, Wien 31952.
Adam, A.-Berger,R., Pastoralliturgisches Handwörterbuch, Freiburg 1980.
„Sanctus“ und „Benedictus“, Bibel heute 28/112 (4/1992).