Das Magnificat



Ermutigung zu vielfältigen Gottesbildern


1. Der frühchristliche Dankgesang des „Magnificat“ geht gleich nach dem individuellen Teil zu Beginn, der noch auf Marias Weg, auf „die Niedrigkeit seiner Magd“ anspielt, zu allgemeinen Aussagen und zeitlosen Bekenntnissen zu Gottes Handeln über. Wegen dieser allgemeinen Prägung als Gotteslob wurde das „Magnificat“ auch zum täglichen Bestandteil des kirchlichen Stundengebets in der Vesper und erfuhr daher in der abendländischen Musik vielfältige Vertonungen. Dabei wird das „Magnificat“ immer als Lobpreis Gottes verstanden, nicht als Huldigung an Maria: Mit Maria preisen wir Christen unseren Gott und sein Handeln.
Was zeichnet dieses Handeln Gottes nach den Aussagen des „Magnificat“ aus?

2. Das vielfältige, durchaus gegensätzliche Handeln Gottes drücken im „Magnificat“ sprachlich die Verben aus, also die Handlungs- und Zeitwörter. Wir stellen sie zusammen und reihen sie aneinander:
- Gott übt Gewalt, er zerstreut, er stürzt um: Das sind Ausdrücke seiner hoheitlichen Macht und Autorität („potestas“), nicht einer willkürlichen Gewalttätigkeit („violentia“).
- Dann gibt es gegensätzliche Verbpaare des Umwandelns und Veränderns:
Gott erhöht und stürzt hinunter.
Er beschenkt und lässt leer ausgehen.
Er sammelt und zerstreut.
Mit diesen Gegensätzen bekennt sich der Dichter des „Magnificat“ zu Gottes verändernder Kraft, zu seinem Handeln, das die bestehenden, vielleicht schon allzu sehr zementierten und ungerecht gewordenen Verhältnisse umwirft.
Da wird Gottes Revolution ins Wort genommen.
- Schließlich finden wir auch die Verben, die uns von Aussagen über Gottes Handeln geläufig sind:
Er erbarmt sich, er nimmt sich an, er denkt an uns: Ausdrücke seiner Großmut und Weitherzigkeit, seines gnädigen und gütigen Handelns.

3. So zeigt uns das „Magnificat“, wie vielfältig und gegensätzlich, wie unerwartet und überraschend Gottes Handeln in der Hl. Schrift formuliert wird und wie vielfältig und bunt auch unsere Gottesbilder und Gottesvorstellungen sind.
Das dürfen und sollen sie auch sein, denn Gottes Handeln umfasst alle Pole, alle Seiten, alle Facetten unseres Lebens, die hellen und die dunklen, die rätselhaften und die selbstverständlichen.
Das hohe Marienfest und das „Magnificat“ im Zentrum der Verkündigung geben uns Mut und Inspiration zu unseren ganz eigenen und vielfältigen Gottesbildern.

Theodor Seidl